Es ist nie vorbei
Eine Erinnerung an den großen Essayisten und Erzähler Jean Améry, der nach seiner Folter durch die SS nie wieder ins Leben zurückfand. Am 31. Oktober wäre er 100 geworden.
Das Gedenken an Jean Améry ist eine schwere Freundespflicht. Es kann nur Stückwerk bleiben. Zu vielfacettiert ist sein Werk: Prosa, Essays, Pamphlete, Briefe – sorgsam ediert inzwischen (unter anderem von der ehemaligen NDR-Redakteurin Gisela Lindemann) und verdienstvoll betreut vom Klett-Cotta Verlag. Man geriete ins Labyrinth dieser stets hellwachen, gleichsam aufgereizten Begabung, wollte man Amérys klarsichtigen Interpretationen von Jean-Paul Sartre oder seinem Anti-Flaubert-Roman "Charles Bovary, Landarzt" nur analysierenden Respekt erweisen, wie sie es sehr wohl verdienten. Zudem ja mit der großartigen Biografie "Revolte in der Resignation" von Irene Heidelberger- Leonard ein umfassendes Porträt vorliegt. So beschränke ich mich auf das Nachgehen der Spuren seines aufgezeichneten Lebens, wie Jean Améry sie selber in so erschütternder – darf man sagen: grausiger? – Eindringlichkeit uns gezeichnet hat.
Da gilt es zu allererst an jenen knappe dreißig Seiten umfassenden Text des Jahres 1965 mit dem fast lakonischen Titel "Die Tortur" zu erinnern. Am 23. Juli 1943 wird der als Hanns Maier (nach anderen Quellen Hans Mayer) 1912 in Wien geborene Widerstandskämpfer verhaftet; als Mitglied einer kleinen Résistance-Gruppe hatte er Flugblätter verteilt, die er später eher beiläufig charakterisiert hat: "Auf einem der Flugblätter, die ich im Augenblick meiner Festnahme bei mir trug, stand ebenso bündig wie propagandistisch ungeschickt ,Tod den SS-Banditen und Gestapohenkern’." In deren Händen – Händen? – war er nun. Bald in der berüchtigten Festung Breendonck in Belgien: "Schwere Gittertore sind immer wieder zu durchschreiten, bis man sich schließlich in einem fensterlosen Gewölbe befindet, in dem mancherlei befremdliches Eisenwerkzeug herumliegt. Von dort drang kein Schrei nach draußen. Dort geschah es mir: die Tortur. … Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann. … Es wird schließlich die körperliche Überwältigung durch den anderen dann vollends ein existenzieller Vernichtungsvollzug, wenn keine Hilfe zu erwarten ist. … Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust aber, gegen den es keine Wehr geben kann und den keine helfende Hand parieren wird, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken."
Es schießen einem noch heute die Tränen in die Augen, liest man das Zeugnis dieser Barbarei: mit gefesselten Händen rücklings an einer Kette aufgehängt – "Die Kugeln sprangen aus den Pfannen" –, mit dem Ochsenziemer ausgepeitscht, die Schultergelenke ausgerenkt: "In der Tortur wird die Verfleischlichung des Menschen vollständig. … Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt. … Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt."
Améry hat aber nicht nur die Vernichtung des Humanum in all seiner Grässlichkeit beschrieben. Er hat politisch reflektiert, was ihm geschah. Geschah? Was WIR ihm antaten. Seine Summe lautet, "dass für dieses Dritte Reich die Tortur kein Akzidens war, sondern seine Essenz". Fast unbegreiflich, dass die Welt uns verzieh. Hat sie vergeben? Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen. Ich könnte es selber nicht. Hat man denn auch nur ein "Ich schäme mich" gehört von manchen ja noch Lebenden, die stolz Hitlers Offiziersuniform trugen? Hat man außer salbaderndem Staatsweihrauch bittende Reue, ein Gebet, "mea culpa" vernommen, eine aufrichtige Geste gesehen, die jenen Erniedrigten zu erreichen suchte, der als Häftling Nr. 172364 schließlich in Auschwitz landete? Seinen "kleinen" Augenzeugenbericht von der Ankunft in dieser Hölle kann man ja nur mit zitternder Hand abschreiben: "Eine Frau … löst sich plötzlich mit aufgelöstem Haar und tragischen Gebärden von ihren Genossinnen und fragt schreiend, bereits mit sichtlichen Anzeichen beginnender Geistesgestörtheit, nach ihrem Kinde. … Sie gerät an einen wachthabenden SS-Mann, ,Mein Kind’, sagt sie, ,haben Sie nirgends mein Kind gesehen?’ ,Ein Kind willst Du?’, antwortet der SS Mann mit vollkommener Ruhe, ,warte…’ Und er geht sehr langsam auf die Gruppe … der Kleinen zu. Er bückt sich und ergreift einen etwa vierjährigen Knaben beim Fuß. Er hebt ihn hoch und wirbelt ihn einige Male durch die Luft, wobei er den kleinen Kopf an einem eisernen Pfeiler zerschmettert."
Wie lebt man damit? Kann Leben nach all dem "normal" weitergehen, auch wenn einer, dieser Jean Améry, "Glück" hatte, als es – wie man so sagt – vorbei war? Nein: "Es war für einmal vorbei. Es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich."
Es hat wohl jedes Menschen Leben einen Nucleus, ein Samenkorn, versenkt ins tiefst-innere Magma seiner Existenz – daraus entsprießt, was sein Lebensbaum werden mag. Wir haben zu begreifen, dass alles, was ein Améry uns zurief in seinem Werk, seinen Ursprung hat in diesem unheilvollen Erlebnis der Erniedrigung, der Not und des – so verquer liefen die Rillen des eigenen Empfindens – Versagens. Er hat sich gleichsam nie verziehen, das erduldet, das ertragen, das durchgestanden zu haben. Sehr gut erinnere ich mich seines zerfurchten Schweigens in so mancher Nacht während meiner Besuche bei ihm in Brüssel von 1960 an und bis gegen Ende der Siebzigerjahre; manchmal streckte er die Hände aus, als wolle er zeigen, er griffe ins Leere – und tatsächlich wiederholte er oft den einen Satz: "Ich verzeihe es mir nicht." Aus dieser psychischen Zerrüttung schuf er sein Werk. So heißt das entscheidende Kapitel seiner Studie "Über das Altern" auch "Sich fremd werden"; da paraphrasiert er ein ums andere Mal sein Diktum vom "Selbstüberdruss als Lebensüberdruss".
Jean Améry hauste im Schatten. Und wer nun selber alt geworden ist, liest gewiss mit schmerzlicherem Erschrecken als ein Jüngerer diese weit ausschwingende Abschiedshymne von jeglichem Zukunftshoffen und jenem Dereinst, das nicht mehr kommt. Hier spricht der grandiose Essayist. Der übrigens keineswegs ein melancholischer Trauerkloß war, tränendick und weltabgewandt. Améry lebte ungerne, aber doch auch gerne. Er schätzte einen guten Wein, er war verheiratet und hatte viele Affären. Redakteure mussten nicht selten die Honorare an der buchhaltenden Gemahlin vorbeischleusen und an – wie er sie altwienerisch nannte – die jeweilige "Geliebte" überweisen. Selbst im Finsternisgrübeln über die Schmählichkeiten des Alterns konnte er noch lachen; "Wozu bin ich Jude", sagte er, bevor er einen Witz erzählte: "In unserer Jugend pflegtest Du mich zu beißen, sagt nachts die liebeslüsterne Frau zu ihrem Mann, der zur Kalamität ehelicher Lust nicht aufgelegt ist; als sie aber weiter verführt und verlangt, dass er wieder Verführer werde, gibt er resigniert bei: all right, all right, give me my teeth." Doch Witze mildern nicht das Massaker genannte Alter. Mit schmerzender Eindringlichkeit konnte Jean Améry, der Hautlose, es schildern. Ein junger Mensch weiß nicht, dass er jung ist; er ist, wie er ist – es ist, wie es ist. Er nimmt seinen Körper nicht wahr, auch der ist einfach vorhanden, und ein junger Mann jedenfalls nimmt nicht wahr, ob er vielleicht gut aussieht. Alles ist selbstverständlich – es gibt eine unendlich sich dehnende Zukunft, einen weit ausgespannten Hoffnungshorizont, nicht zu erschöpfende Lebensenergie, Sexualität täglich möglichst mehrmals.
Und dann die ersten grauen Haare an den Schläfen, die Falten um die Augen, die schwächer werden, das Gehör lässt nach, der linke Fuß... die rechte Schulter... wie war doch noch der Vorname von Minetti... Die Frau lässt sich die Haare färben, der Mann sitzt im Wartezimmer des Urologen. Wenn einem zum ersten Mal in der U-Bahn ein Sitzplatz angeboten wird, weiß man: Ende der Vorstellung: vielleicht vorher noch eine Pause, in der man von einer jungen Frau mit "Väterchen" angesprochen wird. Mehr nicht. Selbst derlei versteht Améry noch mit einer kleinen Schnippischkeit abzufangen: Eine Dame klagt dem Arzt ihr Rheuma, das sie doch in ihrer Jugend nie gehabt habe; der Arzt fragt sie nach ihrem Alter. "87, Herr Doktor." Antwortet der Mediziner: "Aber wann wollen Sie denn Rheuma haben, wenn nicht jetzt?"
Ein Schäkerer jedoch war Améry nicht. Wo es um Ernst ging, war er ernst. Von schneidender Bitterkeit auch. Seine angewiderte Zuspitzung "Sie gingen zur SS, freiwillig. Ich kam anderswo hin, ganz unfreiwillig" war Höhe- und Schlusspunkt einer makabren Debatte. Diese wurde soeben penibel rekonstruiert in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "Mittelweg". Es ging um den Aufsatz "Freiwillig zur SS" des bekannten Essayisten (und späteren Leiters des New Yorker Goethehauses sowie Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste) Hans-Egon Holthusen. Dieser war, wie sein Kontrahent Améry, geschätzter Mitarbeiter des renommierten "Merkur". Wie viele seiner Zeitgenossen verschwiemelte Holthusen Schuld und Versagen – bereits semantisch. Ähnlich den oben erwähnten Granden, die – obwohl Offiziere, reibungslos dienend im Vernichtungskrieg gegen den "slawischen Untermenschen" – nie ihren Blutschwur auf den "Führer" je erwähnten, wusch Holthusen sich bei seiner verabscheuungswürdigen Herumzinkerei sogar qua Grammatik rein. Es war nicht er, der sich freiwillig zu der Mordorganisation gemeldet hatte, sondern stets "der Mensch", der "Grünschnabel", von dessen "Dummheit", "Irrtum", "Eitelkeit" er schwafelte – eine einzige verbale Blendkerze, um vor den eigenen Augen und denen der Leser nebulöse Schuldleugnung zu betreiben. Sollen wir uns wundern, nach allem, was wir von Amérys Schicksal wissen, dass er sich solche Widerlichkeit verbat, in einem Aufschrei: "Sie haben sich die Chance entgehen lassen, ein einzelner in seiner vollen Authentizität, in seiner Kongruenz von subjektivem Verhalten und objektiver Wirkung zu werden, denn Sie brachen nicht aus dem Apparat, der die Welt in den Tod geführt und Sie entselbstet hatte."
Der ins Leben nicht zurückfand
Mit solch Schändlichkeit gepflastert war der Lebensweg dieses Gejagten. Seine Gegenwart war Vergangenheit, eine Zukunft sah der nicht, der gesagt hatte, das Fleisch des Gefolterten "realisiert sich total in der Selbstnegation". Es ist ein Leben zum Tode hin. Existenz nurmehr "Vor dem Absprung". Das ist die Überschrift seines die tiefe Schwärze auslotenden "Diskurs über den Freitod – Hand an sich legen". Wenn das schmale Buch doch die läsen – vielleicht dann doch erschauernd –, die bis dato den Suizid kriminalisieren. Abscheulichere Anmaßung lässt sich schwerlich ermessen; als sei unsereins Staatseigentum. Amérys Plädoyer ist tiefernste Auseinandersetzung – übrigens auch mit theologischen Einwänden – mit der Not des Abschieds, der ihn rief: "Kein Karzinom frisst mich auf, kein Infarkt fällt mich, keine Urämiekrise benimmt mir den Atem."
Nein, er hatte Seelenkrebs. Und mit furioser Emphase forderte er Selbstverantwortung des Menschen für sich ein, gültige Einsicht in die "Grundtatsache, dass der Mensch wesentlich sich selbst gehört". Tröstungen lehnte er ab. Er erinnerte an die vielen – ob Hemingway oder Sigmund Freud, ob Cesare Pavese oder Paul Celan, ob Cato oder Stefan Zweig –, die sich der "Logik des Lebens" entzogen. Doch mit traurigem Trotz verbat er sich Schluchzergirlanden wie hülsenleere Beschützergebärden: "Es geht dies wohl nicht mit rechten Dingen zu, ich meine, einerseits die kalte Gleichgültigkeit, welche die Gesellschaft dem Menschen zeigt, und die erhitzte Sorge um ihn, wenn er aus dem Verbande der Lebenden freiwillig auszutreten im Begriffe steht. Ist er ihr Eigentum?"
Die "Heil" riefen, als sie ihm alles Heil seines Lebens zerprügelten, allen Freudefunken zertraten, haben ihn in den Tod getrieben. Am 17. Oktober 1978 nahm Jean Améry sich in Salzburg das Leben, das er zum Schluss "offensichtlich überflüssig" genannt hatte. Sein "Abschiedsbrief" bestand aus Geld für das Personal und steckte in einem Couvert, das auf dem Hotelzimmertisch lag – mit der Bitte um Entschuldigung für die "Unannehmlichkeiten", die er bereitet habe.
Fritz J. Raddatz
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen